Äthiopien, Belarus, Libyen, Jemen, Syrien und jetzt auch die Ukraine. Wenn wir alle Feierlichkeiten verschieben, weil gerade Krieg herrscht, dann werden wir nie wieder irgendetwas feiern.
Und nur, weil die Ukraine jetzt zufällig in Europa liegt, ist das Leid für mich nicht größer. Auch in Syrien und anderen Ländern sterben viel zu viele Kinder.
Natürlich lässt mich die Situation nicht kalt. Aber man muss sein Leben auch weiterleben. Selbst direkt nach dem zweiten Weltkrieg haben die Kölner Karneval gefeiert. Weil es zum Leben eben auch dazu gehört positive Erlebnisse zu haben.
Entsprechend fahre ich ohne schlechtes Gewissen ins Disneyland und werde dort alle meine Sorgen vergessen. Es haben sich über die Coronazeit genug angesammelt. Ich persönlich kann, außer zu demonstrieren, wenig an der Situation in der Ukraine ändern. Ich tue mein möglichstes, ohne dabei mein eigenes Leben schlecht zu machen.
Und ja, ich wäre sauer, wenn man es verschiebt. Weil es den Ukrainern rein gar nichts bringt, wenn im Disneyland jetzt weniger Shows und anderes stattfindet.
Warten wir mal ab, ob die weisen Worte dieses Mal länger als zwei Wochen anhalten. 2014 war auch die Empörung groß. Hat nur nicht lange angehalten. Generell sind die Empörungswellen durch das Internet größer geworden, aber sie flachen dann doch relativ schnell ab und verpuffen. Bei der Ukraine Krise wird es einen langen Atem brauchen. Also spart euch die Energiereserven auf.
Ich sehe da schon gravierende Unterschiede.
Selbstverständlich ist jeder Krieg ein Drama, überall stirbt viel zu viel Zivilbevölkerung. Das ist keine Frage.
Aber ein vollkommen unprovozierter Angriffskrieg, der größte Angriffskrieg auf europäischem Boden, auf einen demokratischen Staat, der für niemanden bedroht, betrifft uns natürlich viel stärker und stellt eine viel größere Zäsur dar.
Viele unserer User leben, wenn man sich das auch nur schwer vorstellen kann, näher an der Grenze der Ukraine, als an einem Disney Park.
Und es ist ganz normal, dass uns auch emotional Dinge, die in unserer Nähe stattfinden, weit stärker betreffen, als Dinge, die weiter weg passieren. Das ist auch im Kleinen nichts anderes, als hier im Großen. Der Tod von Menschen in direkter Nachbarschaft oder aus der Verwandschaft betrifft uns in der Regel stärker, als der von jemandem, zu dem wir weniger Bezug haben. Das ist vollkommen normal und menschlich.
Aber ganz abseits dieser stärkeren emotionalen Betroffenheit: Alleine von den weltpolitischen Implikationen her ist so ein Krieg, ganz unabhängig vom verbreiteten Leid in jedem Krieg, etwas, das viel weiter geht. Wir befinden uns in einer Lage, deren Dramatik und hohes Risiko vielleicht, ich behaupte, als Historiker und Politikwissenschaftler: noch nicht einnmal da, während der Kuba-Krise bestanden haben oder, wenn auch damals viel weniger im Fokus der Öffentlichkeit, zumidnest in dieser Hinsicht, während Able Arche 1983 und in dessen Folge. Ähnlich hoch war das Risiko eines Atomkrieges, damals aber nur wenige Minuten, vielleicht während des Norwegischen Raketenzwischenfalls 1995, bei dem zum bisher einzigen Mal in der Weltgeschichte eine der großen Atommächte ihren Atomkoffer aktiviert hat (zumindest, soweit bekannt).
Nein, ich glaube zur Zeit auch nicht an einen Atomkrieg, zumindest nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit, aber wir dürfen nicht verkennen, dass wir es mit Putin sehr sicher nicht mehr mit einem rational handelnden Akteur zu tun haben, sondern mit einem sehr sicher inzwischen geisteskranken Potentaten, der in einer wahnhaften, paranoiden Welt gefangen ist.
Meine Hoffnung, dass es nicht soweit kommt, beruht da kaum noch darauf, dass Putin zur Rationalität zurückkehrt, ich denke, über den Punkt ist er weit hinaus.
Ich hoffe aber immer noch, dass dann andere Kräfte diese Angelegenheit beenden und einer Art Nero-Befehl nicht folgen werden, wenn dieser nicht durch die gesetzlich festgelegten Grenzen Russlands für einen Nuklearschlag gedeckt ist.
Ich denke, die Gesichter von Verteidigungsminister Schoigu sowie Generalstabschef Gerassimow vorgestern bei Putins Befehl zur Erhöhung der Alarmbereitschaft der Abschreckungskräfte sprachen Bände.
Gerade Gerassimow wird sicher ohnehin schon, wie üblich, in routinemäßigen Konsultationen mit seinem US-amerikanischen Äquivalent General Milley stehen. Da die beiden als persönlich sich zumindest gegenseitig respektierend, wenn nicht gar mehr, gelten, wird zwischen den Zeilen hier sicherlich auch über Wege zur Abwendung der größten Katastrophe kommuniziert.
Und die, zumindest beginnenden, Absetzungserscheinungen zeigen sich ja auch schon an anderen Stellen, zum Beispiel in persona führender Berater des Außenministeriums, einiger Oligarchen etc.
Und das dürfte nur die Spitze des Eisbergs sein.
Auch all diese Leute haben ein Interesse am Weiterleben und nicht nur am Weiterleben in einem geschützten Bunker, sondern am Weiterleben in ihrem gewohnten Luxus. Natürlich stellt sich noch niemand aus der Führungsriege offen gegen Putin, weil aktuell die Angst davor, dann von Putin bestraft zu werden bzw. die Angst vor den Konsequenzen davon, bei Putin in Ungnade zu fallen, zu groß ist.
Aber auch hier werden diese Leute ständig eine Abwägung treffen, was ihr Leben, ihre Vorteile mehr gefährdet: ein Widerstehen gegen Putin oder dessen Anordnungen Folge zu leisten. Und auch diese Leute haben Familie, haben Kinder und sind kaum an deren Untergang interessiert. Putin mag das egal sein, aber anderen nicht unbedingt.